Das vielschichtige und folgenreiche Geschehen unserer Zeit ist oft schwer in Worte zu fassen. Abstrakte Ausdrücke wie „Zeitenwende“, „Polykrise“ oder „Weltunordnung“ machen die Runde. Solche Begriffe umkreisen die kollektive Erfahrung, dass sich die Welt aus europäischer Perspektive in kurzer Zeit massiv verändert hat.
Inmitten der Pandemie, noch vor dem russischen Krieg gegen die Ukraine und der rasanten Inflation, trat das Vereinigte Königreich mit dem 1. Januar 2021 final aus der Europäischen Union aus. Das aktuelle Ausmaß der globalen Umwälzungen lässt sich daran ermessen, dass dieser historische Austritt in der Erinnerung vieler Menschen zur Randnotiz geschrumpft ist. Dabei hatte der „Brexit“ nicht allzu lang davor als schwerste Krise des europäischen Einigungsprojekts gegolten.
All diese gravierenden Ereignisse fielen in die ablaufende europäische Legislatur, also in die letzten vier Jahre seit der Wahl des Europaparlaments im Jahr 2019. Es steht fest, dass ihre politischen, ökonomischen, sozialen und ökologischen Folgen unsere Zukunft erheblich prägen werden.
Im Jahr 2024 kämpfen wir als GRÜNE im Europawahlkampf um die Frage, wie die europäischen Gesellschaften diesen Folgen dauerhaft begegnen werden – stärker, weil geeint und solidarisch, oder schwächer, weil vermehrt nationalistisch und egoistisch. Als Europapartei werden wir GRÜNE mehr denn je darin mitwirken, die Einigung Europas zu verteidigen und rückwärtsgewandten Antworten auf tiefgreifende Probleme eine Absage zu erteilen. Wir wollen unseren Beitrag leisten, um den Zusammenhalt der EU zu stärken, nach außen wie nach innen.
Lackmustest Pandemie
Im heutigen Europa sind beide Impulse zugleich vorhanden, hin zu mehr europäischem Zusammenhalt einerseits, hin zu mehr nationalistischer Verengung andererseits. Die Reaktionen auf die Pandemie umfassten dieses Spektrum: Zunächst kamen Grenzkontrollen zurück und die nationalen Regierungen tauschten Schuldzuweisungen aus. Alsbald jedoch unterstützten sich die Mitgliedsstaaten bei der medizinischen Versorgung von Corona-Patient*innen oder bei der Evakuierung von EU-Bürger*innen aus betroffenen Regionen weltweit. Ein gemeinsames Kaufprogramm der EU bei der Beschaffung von Impfstoffen verhinderte zudem einen innereuropäischen Überbietungswettbewerb.
In der Pandemie zeigte die EU, dass sie in schweren Krisenmomenten handlungsfähig ist, indem sie sich weiterentwickelt: Mit dem Wiederaufbauprogramm „Next Generation EU“ nahm die EU-Kommission erstmals Kredite auf. Die Mitgliedsstaaten bürgten dafür und gewährten sich auf diese Weise gegenseitig milliardenschwere Darlehen und Zuschüsse, um die sozialen und ökonomischen Folgen der Pandemie aufzufangen. Diese Solidarität ist auch auf Ebene der Regionen konkret spürbar: Das Land Bremen profitiert über die REACT-Initiative noch immer von europäischen Unterstützungsgeldern in Millionenhöhe.
Das Friedensprojekt und die Zäsur des russischen Kriegs gegen die Ukraine
Mit dem 24. Februar 2022 wurde der Bau einer europäischen Friedensordnung in seinen Grundfesten erschüttert. Der offene militärische Überfall Russlands auf ein souveränes Land mit einer demokratisch gewählten Regierung war ein Akt der Brutalität, den bis dahin nur noch die älteste Generation der europäischen Bürger*innen kannte. Die Bereitschaft zur gewaltvollen Verschiebung von Grenzen ist auf unseren Kontinent zurückgekehrt. Als GRÜNE verurteilen wir das verantwortliche Regime Wladimir Putins und die Kriegsverbrechen der russischen Armee aufs Schärfste.
Die EU hat sich im Angesicht dieses Grauens insgesamt als geschlossen und entschlossen erwiesen. Ein gemeinsames Sanktionsregime wurde auf den Weg gebracht und stetig ausgeweitet. Die humanitäre, finanzielle und militärische Unterstützung der angegriffenen Ukraine wurde im Rat der Regierungen beschlossen und immer wieder bekräftigt. Erstmals in ihrer Geschichte hat die EU den Kauf von Waffen finanziert, um sie der Ukraine zur Verfügung stellen zu können. Als GRÜNE treten wir dafür ein, dass die Unterstützung der Ukraine fortgesetzt wird. Der Platz der Ukraine ist in der Friedensgemeinschaft EU. Ein dauerhafter Erfolg Russlands bei der Teilung und Destabilisierung der Ukraine würde in Europa und darüber hinaus das fatale Signal senden, dass die Unverletztbarkeit der Grenzen nichts mehr gilt. Ohne dieses völkerrechtlich verankerte Prinzip ist Frieden jedoch undenkbar.
Nur unter dem Dach des transatlantischen Bündnisses ist die EU in der Lage, den Herausforderungen durch Autokraten von Moskau bis Beijing entgegenzutreten. Der fortwährende Krieg fordert uns dazu auf, über das Friedensprojekt Europa und seine Zukunft nachzudenken. Dass die Mitgliedsstaaten der EU zu ihrer Sicherheit auf die militärische Macht der USA angewiesen bleiben, entbindet sie nicht davon, ihre eigene Bündnisfähigkeit im Rahmen der NATO zu steigern. Wir GRÜNE geben unsere skeptische Haltung zur Expansion von Rüstungsausgaben und -exporten keineswegs auf. Aber das vollständige Scheitern der diplomatischen Einbindung Russlands nach der Annexion der Krim lieferte insbesondere für Deutschland die bittere Einsicht, dass der Aufbau gemeinsamer militärischer Fähigkeiten in der Sicherung der europäischen Ordnung eine systematische Rolle spielen muss.
Der European Green Deal als ökologisches Integrationsprojekt
Nicht nur im Rahmen geopolitischer Konflikte ist die EU herausgefordert. Auch die Folgen des Klimawandels werden mit jedem Jahr deutlicher spürbar. Mittlerweile vergeht kein Sommer, indem uns nicht Bilder von neuen Rekordbränden aus den Mittelmeerstaaten erreichen. Ausgedehnte Dürreperioden und Hitzewellen belasten Landwirtschaft und Tourismus auch hierzulande – in Südeuropa sind diese Branchen jedoch zentrale Wirtschaftszweige. Beispielsweise haben die jüngsten Flutkatastrophen in Griechenland rund 25% der landwirtschaftlichen Fläche des Landes auf Jahre geschädigt. Die EU-Kommission hat 2019 erstmals vor einer neuen Nord-Süd-Spaltung Europas aufgrund von Klimafolgen gewarnt. Je weiter der Klimawandel voranschreitet, desto mehr verstärken sich diese Effekte.
Der European Green Deal ist damit zugleich der Beitrag der EU zur Erreichung der Pariser Klimaziele und das Programm zur Sicherung der ökologischen Grundlagen der europäischen Einigung. Im Rahmen der Umsetzung der einzelnen Pakete des Deals haben wir als GRÜNE wichtige Erfolge errungen – etwa bei der Festlegung der CO2-Reduktionsziele, bei der Aufnahme der Schifffahrt in den europäischen Emissionshandel oder mit der Einrichtung des Klima-Sozialfonds. Vom Aktionsplan Kreislaufwirtschaft über den Green Deal Industrial Plan bis zum Gesetz über die Wiederherstellung der Natur: Im Bereich von Klima- und Umweltschutz sowie dem Übergang zu einer nachhaltigen Wirtschaft ist die Handlungsmacht der EU zur Erreichung GRÜNER Ziele entscheidend. Als GRÜNE wollen wir mit starker Stimme im europäischen Parlament für breite demokratische Allianzen kämpfen, um die Lebensgrundlagen auf unserem Kontinent für künftige Generationen zu erhalten.
Wir wollen eine europäische Wirtschaftspolitik, die den Mut zu strategischen Investitionen in nachhaltige Energiequellen und Produktionsweisen aufbringt. Für unsere beiden Städte Bremen und Bremerhaven ist dies von zentraler Bedeutung: Wir fördern bereits die Transformation unseres Stahlwerks als „Important Project of Common European Interest“ (IPCEI) mit europäischen Mitteln. Wir wollen unseren Hafenstandort zu einem Drehpunkt der kommenden europäischen Offshore-Wind-Offensive machen. Und wir brauchen Infrastrukturen für eine klimafreundlichere Zukunft in der Schifffahrt. All das können wir auf europäischer Ebene anpacken, um den Wohlstand von morgen für die Menschen in Norddeutschland und Europa insgesamt zu schaffen.
Die europäische Einigung ist ein freiheitliches Projekt
Auch das politische Klima hat sich in den letzten Jahren verändert. Zwar wurden in einigen Ländern Rechtspopulist*innen und Nationalist*innen von den Wählern in die Schranken verwiesen und abgewählt, etwa in Slowenien oder in Tschechien. An anderer Stelle haben sich rechte Kräfte jedoch parlamentarische Mehrheiten neu erobert, wie in Italien, oder ihre Macht mit illiberalen Mitteln dauerhaft konsolidiert, wie in Ungarn.
Die Folgen für die Bürger*innen sind vielfältig. Sie reichen von der Normalisierung diskriminierender Diskurse in der Öffentlichkeit über konkrete Eingriffe in Reproduktionsrechte bis zur Zunahme von tätlichen Übergriffen auf Minderheiten. Als GRÜNE stemmen wir uns weiterhin gegen diese Entwicklungen, da sie in unseren Augen die Grundlagen eines freiheitlichen Lebens für jede*n Einzelne*n gefährden.
Die staatliche Gängelung unabhängiger Medien und die Aushöhlung der Gewaltenteilung, wie wir sie in Polen und Ungarn beobachten müssen, gehen an die Substanz eines demokratischen Gemeinwesens. Die EU ist u.a. mit der Einführung des Rechtsstaatsmechanismus neue Schritte gegangen, um sich ihre Integrität als demokratische Staatengemeinschaft zu erhalten. Im Falle Ungarns hat sich die Kommission erstmalig für die Rückhaltung von EU-Geldern aufgrund von Rechtsstaatlichkeitsbedenken entschieden. Aus GRÜNER Sicht sind solche Maßnahmen gerechtfertigt und sollten auch künftig ergriffen werden, wenn das politische Handeln einzelner Regierungen den rechtsstaatlichen Grundsätzen der europäischen Verträge widerspricht. Für uns GRÜNE ist die EU weit mehr als ein Binnenmarkt.
Europäischer Zusammenhalt und globale Solidarität müssen Hand in Hand gehen
Die EU hat in der Auseinandersetzung mit den angesprochenen Krisen viel erreicht und sich entgegen mancher Untergangsprophezeiung behauptet. Nichtsdestotrotz gehört zu unserer GRÜNEN Perspektive auf die EU auch, Probleme zu benennen. Aus unserer Sicht muss die EU im Ringen mit den gegenwärtigen Herausforderungen auch die globalen Folgen ihres Handelns im Blick haben. Das ist in den vergangenen Jahren nicht immer gelungen.
Während des Höhepunkts der Energiekrise verdrängte etwa die neue LNG-Nachfrage der zahlungskräftigen EU-Staaten ärmere Länder, u.a. Bangladesch, vom globalen LNG-Markt, was dort zu erheblichen Versorgungslücken führte. Zudem werden durch die neuen LNG-Lieferverträge Umweltprobleme bei der Gewinnung des Gases dauerhaft in den Globalen Süden verschoben. Als GRÜNE kritisieren wir solche Entwicklungen und wollen wir daraus Schlüsse für die Zukunft ziehen – etwa bei den derzeit entstehenden Wasserstoff-Partnerschaften: Hier müssen die Mitgliedsstaaten der EU die Rückwirkungen ihrer Politik auf die Gegebenheiten in den Partnerländern im Voraus klar reflektieren, sonst drohen z.B. in Punkto regionaler Wasserhaushalte erneut hochproblematische Nebenwirkungen. Zudem müssen die produzierenden Länder an den Wertschöpfungspotenzialen beteiligt werden.
Beim Klimawandel gilt, dass die industrialisierten Staaten des Westens historisch den Großteil der Treibhausgasemissionen verursacht haben. Sie tragen damit eine besondere Verantwortung, die Klimakrise zu bekämpfen und für mehr Klimagerechtigkeit in der Welt des 21. Jahrhunderts zu sorgen. Als GRÜNE stehen wir zu dieser Verantwortung.
Bei der Suche nach Lösungen für mehr Klimaschutz dürfen keine neuen Ungerechtigkeiten entstehen: Durch den Abbau von Ressourcen, die zum Gelingen der Energiewende benötigt werden, finden Umweltzerstörungen unter ausbeuterischen Arbeitsverhältnissen in den Ländern des globalen Südens statt. Deshalb stehen wir als GRÜNE dafür ein, dass die Energiewende nachhaltig umgesetzt werden muss, auf der Grundlage globaler Mindeststandards beim Arbeits- und Umweltschutz. Mit dem Lieferkettengesetz zeigt die EU bereits, dass sie in dieser Hinsicht eine positive Rolle auf dem globalen Spielfeld einnehmen will. An diese Impulse sollte im Rahmen neuer Rohstoffstrategien angeknüpft werden.
All hands on deck: Für eine gemeinsame Zukunft in einem vereinten Europa
Die Liste der Aufgaben ließe sich noch weiter fortsetzen. Die EU und ihre Mitgliedsstaaten haben bewiesen, dass sie in der Lage sind, sich weiterzuentwickeln und neuartigen Herausforderungen zu begegnen. Entscheidend ist aus GRÜNER Sicht, dass die Menschen in Europa in die Lage versetzt werden, an ihrer Zukunft mitzuwirken – hier geborene EU-Bürger*innen ebenso wie diejenigen Menschen, die aus verschiedensten Gründen ihren Weg zu uns finden.
Trotz einer alternden Bevölkerung müssen wir den ökologischen Umbau der Wirtschaft, die soziale Einbettung der notwendigen Klimaschutzmaßnahmen und die technologische Revolution der Arbeits- und Lebenswelt meistern – dafür brauchen wir jede*n Einzelne*n! Daher investieren wir in Bremen und Bremerhaven in die Fähigkeiten der Menschen, daher suchen wir im Dialog mit unseren Partnerstädten und in unseren internationalen Netzwerken den Austausch von Wissen und Erfahrungen. Nur gemeinsam sind wir in der Lage, unsere sozialen, ökologischen und ökonomischen Ziele zu erreichen. Zukunft ist, wenn alle mitmachen!
Die Landesmitgliederversammlung möge beschließen:
Als Bremer GRÜNE bekennen wir uns zur Europäischen Union und zur NATO. Bei der Wahl zum Europaparlament 2024 treten wir ein für eine freiheitliche, solidarische und ökologische Europapolitik. Wir wollen unseren Beitrag leisten, um das Projekt der europäischen Einigung gemeinsam mit den Menschen weiterzuentwickeln und so für die Zukunft zu sichern.
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