Die Krise trifft uns nicht alle gleich. Corona hat die Ungleichheiten nicht verursacht, aber sichtbarer gemacht und verschärft. Menschen, die doppelt, drei- oder vierfach von Diskriminierung betroffen sind, leiden besonders stark unter der Pandemie und ihren Folgen.
Viele Errungenschaften und Fortschritte auf dem Weg zur Geschlechtergerechtigkeit drohen in der Corona-Krise verloren zu gehen, und das, obwohl wir in dieser Krise viel deutlicher als sonst sehen, wie bedeutend die Arbeit von Frauen für unsere Gesellschaft ist.
Denn Frauen arbeiten häufiger in den sogenannten systemrelevanten Berufen: Es sind die Pflegerinnen in den Krankenhäusern, die Kassiererinnen im Einzelhandel, die Erzieherinnen in der Kita, die nicht ins Home Office können. Und zuhause liegt noch immer die Hauptverantwortung für Erziehung, Haushalt und die Pflege Angehöriger bei den Frauen. Durch Schul- und Kita-Schließungen hat sich dieses Ungleichgewicht verschärft. Die Corona-Krise trifft uns nicht alle gleich. Denn Frauen leisten den Großteil der unverzichtbaren Arbeit, bezahlt und unbezahlt, und trotzdem sind sie stärker von den Auswirkungen der Krise betroffen. Sie haben das Land am Laufen gehalten und damit persönlich wie beruflich stark zurückstecken müssen.
Lesbische und queere Frauen, nicht-binäre Personen die weiblich gelesen werden, Personen die Diskriminierung aufgrund von Weiblichkeit und Gender-Nonkonformität erfahren, sowie trans*, inter und asexuelle Personen (im folgenden auch FLINTA*), die alle durch staatliche und medizinische Systematiken nochmal stärker marginalisiert, fremdbestimmt und mehrfach diskriminiert werden, bekommen zusätzliche negative Auswirkungen der Krise zu spüren.
Ungleiche Löhne, Unvereinbarkeit von Familie und Beruf, unzureichende Kinderbetreuungsangebote, ungerechte Verteilung von Sorgearbeit, häusliche Gewalt, Benachteiligung von lesbischen Müttern und queeren Regenbogen-und Wahlfamilien, Diskriminierung von Frauen mit tatsächlicher oder zugeschriebener Migrationsgeschichte, problematische von Fremdbestimmung und Pathologisierung geprägte Gesundheitsversorgung für FLINTA*, erschwerter Zugang zu queeren und Mädchen-/Frauenberatungsstellen, zu Geburtshilfe und zum Schwangerschaftsabbruch – an vielen Stellen zeigt die Krise uns noch deutlicher als sonst, wie weit wir noch von einer geschlechtergerechten Gesellschaft entfernt sind. Gleichzeitig laufen wir Gefahr, in traditionalisierte Geschlechterrollen zurückzufallen.
Diese Probleme anzugehen heißt für uns, eine Gesellschaft anzustreben, in der gleiche Rechte, Teilhabe, Arbeit und Anerkennung für alle Geschlechter Wirklichkeit werden. Wir machen uns für eine intersektionale Perspektive stark, die Mehrfachbelastung durch strukturelle und gesellschaftliche Marginalisierung und ständige Diskriminierungserfahrungen aufgrund von Herkunft, Alter, Behinderung, sexueller oder romantischer Orientierung, geschlechtlicher Identität, Klasse, Religion oder Weltanschauung benennt und mitdenkt. Bremen ist eine bunte Stadt, die Vorreiterin der Geschlechtergerechtigkeit sein kann und soll. Wir brauchen keinen Rückfall in alte Muster, in traditionalisierte Geschlechterrollen oder Familienvorstellungen. Unsere Antwort auf die Krise muss intersektional und queerfeministisch sein.
Klatschen reicht nicht! Pflegeberufe aufwerten
Deutschlandweit sind drei Viertel aller sozialversicherungspflichtigen Beschäftigten in den Krankenhäusern Frauen. Die wichtige Arbeit, die dort geleistet wird, findet aber weiterhin unter widrigen Bedingungen statt. Die Verantwortung ist groß, doch Arbeitsbedingungenund Löhne teilweise schlecht. Die beschlossene finanzielle Aufwertung der Arbeitist ein erster Schritt. Dafür brauchen wir allerdings vom Bund ein Entlastungspaket, das uns als hoch verschuldetes Bundesland stärker finanzielle Spielräume gibt, um den Beschäftigten einen besseren Lohn zahlen zu können. Aktuell wird nur etwa ein Drittel der Pflegekräfte im Land Bremen nach Tarif bezahlt. Wir setzen uns im Senat für eine flächendeckende Tarifbindung ein!
Mehr Geld allein reicht nicht, auch die Arbeitsbedingungen müssen besser werden. Eine hohe Zahl an Überstunden, Doppelschichtenund viel Verantwortung mit zu wenig Personal sind Alltag in der Pflege. DieKrise in der Pflege verschärft sich in der Pandemie weiter und immer mehr Pflegekräfte geben auf, manche schon in der Ausbildung. Die Beschäftigten, die heute das Leben am Laufen halten, brauchen nicht weniger, sondern mehr Gesundheitsschutz. Es ist in jeder Hinsicht kontraproduktiv, wenn jetzt gerade diejenigen, die sowieso schon am Anschlag arbeiten noch länger arbeiten müssen. Das Pflegepersonal-Stärkungsgesetz ist unzureichend. Die Pflegepersonaluntergrenzen-Verordnung wurde zwischenzeitlich sogar ausgesetzt, um Pflegekräfte aus anderen Abteilungen auf den Intensivstationen einzusetzen. Diese Zustände müssen die absolute Ausnahme bleiben. Wir wollen eine Personalbemessung in der Alten-und Krankenpflege, die sich am tatsächlichen Pflegebedarf der Menschen ausrichtet.
Deshalb fordern wir:
- flächendeckende und allgemeinverbindliche Tarifverträge in allen sozialen Berufen
- Anreize für den Wiedereinstieg von Fachkräften in die Pflege zu setzen und mit einer flexiblen Vollzeit zwischen 30 bis 40 Stunden mehr Zeitsouveränität für die Beschäftigten zu schaffen
- eine bundesweit verbindliche Personalbemessung in der Pflege und Geburtshilfe
- ein Entlastungspaket vom Bund, der es uns und anderen Kommunen ermöglicht, Pflege-und Sozialberufen besser zu bezahlen
Mehr Fürsorge – weniger Geld
Während die Kitas und Schulen im Frühjahr geschlossen waren, kümmerten sich vor allem die Frauen um die zuhausegebliebenen Kinder. Eine massive Mehrbelastung, die bei vielen Frauen zur Stundenreduzierung oder gleich zum Verlust der Arbeitsstelle führte. Eine politische Antwort auf diese Schieflage gab es nicht, sondern es galt das Prinzip „Mama macht das schon“.
Dass vor allem Frauen für die Kinderbetreuung ihre Erwerbsarbeit aufgaben, hat einen einfachen Grund: Hauptverdiener in vielen Haushalten ist ein Mann. Die Corona-Krise hat auch hier eine bestehende Ungerechtigkeit verschärft.
Frauen, auch lesbische und queere Frauen, haben sich in dieser schwierigen Zeit häufig um pflegebedürftige Angehörige gekümmert, weil z.B. Tagespflegeeinrichtungen ausgefallen sind. Lesbischen und queeren Frauen wird die Pflege von Familienmitgliedern wegen fehlender Anerkennung und Benachteiligung von Regenbogen-und Wahlfamilien, zusätzlich erschwert. Viele Corona-Verordnungen nehmen weder Rücksicht auf Personen die nicht in Partner*innenschaften leben, noch auf die Häufigkeit und Notwendigkeit des Prinzips queerer Wahlfamilien, die oft an die Stelle von Herkunftsfamilien-Verbindungen treten. Dadurch sind Frauen in ihrer Erwerbsarbeit eingeschränkt worden und stärker von finanziellen Einbußen betroffen. Auch hier zeigt sich wieder die riesige Bedeutung unbezahlter Sorgearbeit während der Corona-Krise.
Ein weiterer Grund für die wirtschaftliche Ungleichheit der Geschlechter: Fast die Hälfte aller erwerbstätigen Frauen arbeitetin Teilzeit oder Minijobs. In Kurzarbeit wird ein ohnehin schon geringerer Lohnnoch geringer. Das Risiko, in Armut abzurutschen, erhöht sich damitum ein Vielfaches. Der Bremer Landesmindestlohn soll 2021 auf über 12 Euro steigen. Dies ist ein wichtiger Schritt zur Absicherung von prekär beschäftigten Frauen.
Die finanzielle Gleichstellung der Geschlechter und die finanzielle Autonomie von Frauen sind entscheidend für Selbstbestimmung und Unabhängigkeit. Wir Grüne kämpfen daher für Lohngleichheit und die gerechte Verteilung unbezahlter Sorgearbeit – in der Krise und darüber hinaus!
Deshalb fordern wir:
- Recht auf Notbetreuung für Personen in systemrelevanten Berufenund für Alleinerziehende bei erneuten Schul-und Kitaschließungen
- Eine Lohnersatzzahlung für pflegende Angehörige, den Anspruch auf ein Pflegeunterstützungsgeld und die Ausstattung mit Schutzkleidung und Desinfektionsmitteln. Dies soll auch für queere Wahlfamilien gelten.
- Paritätische Elternzeit und Reform des Elterngeldes. Dies muss auch für lesbische Mütter und queere Eltern gelten, die bisher nicht von Geburt des Kindes an als Eltern anerkannt werden.
- Abschaffung des Ehegattensplitting
Wirksam gegen häusliche Gewalt
2019 wurde fast jeden dritten Tag eine Frau von ihrem Partner oder Ex-Partner in Deutschland getötet. Dies sind keine sogenannten Beziehungstaten oder Familientragödien, sondern Femizide und sie müssen als solche benannt werden. Die Corona-Krise hat das Gewaltproblem in den eigenen vier Wänden extrem verschlimmert, denn Isolation und eine schwierige soziale und finanzielle Situation in den Familien nahmen zu,Abhängigkeiten und Spannungen in vielen Fällen verschärft. Kleine Wohnungen für viele Familienmitglieder werden zu einer Zerreißprobe, wenn man nicht vor die Tür darf, oder soll. Darunter leiden insbesondere auch queere Jugendliche, die in ihrer Familie nicht offen leben können oder mit negativen Reaktionen der Familie auf ihr Outing umgehen müssen. Sie brauchen ausgleichenden, direkten Kontakt zu Peers in soziokulturellen queeren Räumen oder im Rahmen von Selbsthilfe, was derzeit nicht mehr möglich ist.
Deshalb war es richtig, im Frühjahr die Plätze von Frauenhäusern temporär aufzustocken. Wir brauchen bundesweit endlich einen Rechtsanspruch auf Schutz vor häuslicher Gewalt, der im StGB verankert ist. In Bremen und Bremerhaven müssen grundsätzlich mehr Plätze in Frauenhäusern, Kinderschutzeinrichtungen und queere Schutzräume geschaffen werden, um Frauen, Kinder, Jugendliche, trans*, inter* und nicht-binäre Personenin gefährlichen Situationen nicht ihrem Schicksal zu überlassen.
Deshalb fordern wir:
- Bundesweiten Rechtsanspruch auf Schutz vor häuslicher Gewalt
- Eine zügige Umsetzung des Bremer Landesaktionsplan zur Istanbulkonvention und des Landesaktionsplan gegen Homo-, Trans-und Interfeindlichkeit
- Kapazitäten von Schutzeinrichtungen weiter zuerhöhen, neue Schutzwohnungen zu schaffen und Frauenhäuser und andere bestehende Einrichtungen zu modernisieren und Schutzeinrichtungen für FLINTA* Personen zu schaffen.
- Ausbau präventiver Maßnahmen, wie Täterarbeit und Kampagnen zur kritischen Männlichkeit, um Gewalt zu verhindern, die sich gegen Frauen, Kinder, trans*, inter* und nicht-binäre Personen richtet, sowie gegen Personen, die Diskriminierung aufgrund von Weiblichkeit erfahren.
Alleinerziehende nicht im Regen stehen lassen
Schon vor der Krise waren alleinerziehende Frauen in einer meist angespannten Lage und häufig von Armut bedroht. Um Erziehung und Job unter einen Hut zu bekommen, sind sie häufig gezwungen, einer Teilzeitbeschäftigung nachzugehen, unter massiven finanziellen Einbußen. Ausfall von Schule und Kita haben dies weiter erschwert. Finanzielle Sorgen haben sich in der Krise noch stärker breitgemacht.
Deshalb müssen Schulen und Kitas Verlässlichkeit und Flexibilität bei den Betreuungszeiten bieten, besonders für Alleinerziehende. Falls es zu einer erneuten Schließung von Schulen und Kitas kommen sollte, müssen neben Eltern, die in systemrelevanten Berufen arbeiten, auch Alleinerziehende den Anspruch auf Kinderbetreuung haben.
Deshalb fordern wir:
- Einführung einer bundesweiten Kindergrundsicherung
- Anspruch auf Notbetreuung bei Schul-und Kitaschließungen für Alleinerziehende
- Ausbau flexibler Randzeitbetreuung und Errichtung einer 24-Stunden-Kita
- Finanzierung von Jugend-und Familienhilfe sichern
- Recht auf mobiles Arbeiten bei Übernahme aller entstehenden Arbeitskosten (Laptop, Drucker usw.) durch die Arbeitgeber*innen.
Arbeitsmarkt-und Steuerpolitik geschlechtergerecht machen, Eigenständigkeit sichern
Die strukturelle Benachteiligung von Frauen ist bei wirtschaftspolitischen Schutzschirmen in den vergangenen Monaten spürbar gewesen. Zu viele Frauen arbeiten häufig in Minijobs, im informellen Sektor oder sind anderweitig prekär beschäftigt und somit kaum vor Jobverlustund großen Einkommenseinbußen geschütztgewesen. Frauen wird dann häufig vorgeworfen, dass sie den falschen Beruf gewählt hätten und doch was anderes machen sollten, wo sie mehr Geld verdienen würden. Dabei ist die freie Entscheidungüber die Berufswahl nicht das Problem, sondern strukturelle Ungleichheiten auf dem Arbeitsmarkt!
Die Versäumnisse der Vergangenheit müssen jetzt endlich angepacktwerden, um einen modernen und gleichberechtigten Arbeitsmarkt zu schaffen, der die eigenständige Absicherung von Frauen unterstützt, statt zu behindern und Sorgearbeit in den Blick nimmt und nicht zu Lasten der Frauen einfach ignoriert. Eine paritätische Elternzeit, die auch für lesbische Mütter und queere Familien greift, das Rückkehrrecht in Vollzeit und eine neue, flexible Vollzeit von 30 bis 40 Stunden sowie die Abschaffung des Ehegattensplittings sind wichtige Schritte auf dem Weg dorthin. Mit dem Bremen-Fonds nehmen wir 1,2 Milliarden Schulden auf, um in den nächsten Jahren in eine robuste öffentliche Infrastruktur und die sozial-ökologische Transformation der Wirtschaft zu investieren. Anders als beim Konjunkturpaket der Bundesregierung dürfen Frauen und Personen die aufgrund von Weiblichkeit undaufgrund ihrer geschlechtlichen Identität, ihrersexuellen oder romantischen Orientierung benachteiligt sind, sowie systemrelevante Berufe beim Bremen-Fonds nicht hinten runterfallen. Deshalb fordern wir, dass alle Investitionen kontinuierlich auf genderspezifische Wirkungenüberprüft und ggfs. angepasst werden.
Es muss sichergestellt werden, dass Zukunftsinvestitionen Frauen, Lesben, inter, nicht-binären, trans* und asexuellen Personen in gleichem Maße zugutekommen wie Männern. Mit dem Bremen-Fonds müssen wir vor allem dort investieren, wo wir sozialversicherungspflichtige Arbeit schaffen können, denn nur so können wir eigenständige Existenzsicherungen sichern.
Deshalb fordern wir:
- Paritätische Elternzeit, die auch für lesbische Mütter und queere Eltern gilt, die bisher nicht von Geburt des Kindes an als Eltern anerkannt werden.
- Rückkehrrecht in Vollzeit nach einer Schwangerschaft
- eine neue, flexible Vollzeit von 30 bis 40 Stunden die Woche
- Abschaffung des Ehegattensplittings
- einen Bonus für jedes Unternehmen, dass bei jedem neu geschaffenen Arbeitsplatz eine Frau einstellt
Wir wollen geschlechtergerecht aus der Krise kommen
Die Corona-Krise könnte unsere Gesellschaft auf dem Weg zur Geschlechtergerechtigkeit um Jahre zurückwerfen. Dem müssen wir unsentschieden entgegenstellen: Wir können jetzt die politischen Entscheidungen treffen, die den Weg zur Gleichstellung und Gerechtigkeit freimachen, damit alle Frauen und alle Personen, die aufgrund von Weiblichkeit und geschlechtlicher Identität diskriminiert werden, mit gestärkten Rechtenaus der Krise herauskommen!
Für uns ist klar: Frauen haben mehr verdient – mehr Lohn, mehr Zeit und mehr Gestaltungsmöglichkeiten. Deshalb müssen wir Wirtschaft und Arbeitsleben krisenfester, solidarischer, gerechter und nachhaltiger gestalten – im Land Bremen und im Bund. Denn die Krise trifft uns nicht alle gleich, sondern verschärft bestehende Ungleichheiten und Schieflagen. Deshalb ist unsere Antwort auf die Krise ein intersektionaler und solidarischer Feminismus!
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